Auf Krankenhaus-Hebammen kann nicht verzichtet werden

Prof. Künzel: "Mit dem Arzt ein Team" - Ein Jahr Gießener Schule

Gießen (wg). "Bei der Auswahl der ersten Schülerinnen der wiedergegründeten Hebammenschule an der Frauenklinik der JLU scheinen wir eine glückliche Hand gehabt zu haben, denn von 20 jungen Damen, die ihre Ausbildung am 1. Oktober des vorigen Jahres begannen, sind 19 noch dabei, eine hat sich inzwischen anders orientiert." Dieses Fazit zog gestern der Direktor der Frauenklinik, Prof. Dr. Wolfgang Künzel, im Gespräch mit dem Anzeiger. Künzel und die für die Ausbildung zuständige Leitende Lehrhebamme, Dorothea Heidorn, hatten die Schülerinnen nach persönlichen Gesprächen ausgewählt und sich dabei an der Motivation der Bewerberinnen, an pflegerischer Erfahrung, an ihrem Engagement und selbstverständlich auch an ihren Zeugnissen orientiert.

Kritik übt Prof. Künzel (Bild) am neuen Auswahlverfahren, das vom Hessischen Sozialminister angeordnet wurde. Dieses schreibt vor, die Bewerberinnen für einen Hebammenkurs nach dem Losverfahren auszuwählen, sofern die Bewerbungsunterlagen vollständig sind. Dieses Verfahren, so Künzel, läßt zum Beispiel unberücksichtigt, ob eine Bewerberin vorher ihre Berufsneigung im Rahmen eines Praktikums getestet hat.
So lagen für den zweiten Kurs, der eigentlich am 1. Oktober dieses Jahres hätte beginnen sollen, 220 Bewerbungen vor. 60 Aspirantinnen auf einen Ausbildungsplatz wurden davon ausgelost, 20 davon schließlich werden nach eingehenden Gesprächen ausgewählt.
Daß der neue Kurs nicht, wie vorgesehen, am 1. Oktober beginnen konnte, lag an fehlenden Geldmitteln, denn der Landeshaushalt 1983 wurde bis jetzt nicht verabschiedet. Nun soll der nächste Kurs im Frühjahr starten. Über die Verzögerung ist der Kliniksdirektor nicht unglücklich, wie er bekundet, weil mehr Zeit zur Auswahl besteht, wohl aber über das Auswahlverfahren. Entsprechend der Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft werden die Hebammenkurse in Zukunft drei Jahre lang dauern, während der zur Zeit laufende erste Kurs bereits nach zwei Jahren beendet wird. Im zurückliegenden ersten Jahr der Ausbildung hatten sich die Schülerinnen vorwiegend mit theoretischen Fragen, verbunden mit praktischer Anschauung zu befassen. Die Ausbildung im zweiten Jahr konzentriert sich nun auf das Leiten von Geburten unter Aufsicht einer Hebamme und des Oberarztes der Entbindungsstation.
Trotz einiger Anlaufschwierigkeiten, die mit der Wiedergründung einer solchen Schule verbunden sind, hat es nach den Worten von Prof. Künzel beim Personal auf den Stationen und im Kreißsaal viel Bereitschaft gegeben, die Ausbildung zu unterstützen.
Wenn die Schülerinnen in einem Jahr ihre Ausbildung beendet haben, besteht vielleicht für zwei von ihnen die Chance, in der Frauenklinik fest angestellt zu werden. Die übrigen müssen sich anderweitig umsehen. Auf jeden Fall, so Künzel, sollten sich die Absolventinnen der Hebammenschule nicht gleich als frei praktizierende Hebamme niederlassen, sondern die Weiterbildung in einer Klinik anstreben.
Eindeutig plädiert Prof. Künzel für die Hebamme in der Klinik. Bekanntlich soll einem Gesetzentwurf des Bonner Kabinetts zufolge das seit 50 Jahren bestehende Hebammengesetz dahingehend abgeändert werden, daß die Anwesenheit einer Hebamme bei jeder Entbindung nicht mehr zur Pflicht gemacht wird.
Die Zahl der Hausgeburten - und damit verbunden der Einsatz einer Hebamme dort - ist relativ klein. Die Entbindung in einer Klinik ist die Norm und mindert das Risiko für Mutter und Kind. In diesem Zusammenhang, so Künzel, hat die Hebamme in Zusammenarbeit mit dem Arzt ihren wohldefinierten Aufgabenbereich. Sie ist für die Leitung und Überwachung der normalen Geburt verantwortlich bei gleichzeitiger Rücksprache mit dem Arzt. "In dieser Funktion ist sie unverzichtbar, zusammen mit dem Arzt bildet sie ein Team", sagte Künzel.
In den letzten Jahren habe es zunehmend weniger Hebammen gegeben, weshalb hie und da Schwestern deren Aufgaben hätten übernehmen müssen. Gerade um den Mangel an Hebammen zu überwinden, habe die Gießener Hebammenschule vor einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen.



Gießener Anzeiger, 22.10.1983