»Das größte ärztliche Wissen hat nicht verhindert, daß Kinder spontan zur Welt kommen.«
Entbindungshaus >In den Brunnengärten</Rödgen reagiert auf neue Bedürfnisse
Als Maria vor 1985 Jahren ihren Sohn zur Welt brachte, hatte sie keine große Auswahl. Mangels eigenem Heim kam Jesus in einer "Stallgeburt" zur Welt. Mit Ochs und Esel als Wärmespender und Joseph als Geburtshelfer, über dessen Geschick die Bibel kein Wort verliert. Bekanntlich verhinderten solche Umstände der Überlieferung nach keineswegs, daß die Geburt glatt verlief und noch heute alljährlich von Milliarden Menschen gefeiert wird.
Fast 2.000 Jahre später warten in unseren Breitengraden hochtechnisierte Kliniken auf die schwangeren Frauen, doch die Begeisterung über solche Versorgung hat sich in den letzten Jahren merklich abgekühlt. So ist in Rödgen ein privates Entbindungsheim entstanden, das den Bedürfnissen jener Frauen Rechnung tragen will, die die KIinikgeburten nicht mehr über sich ergehen lassen wollen. Denn überwiegend sind es Zweitgebärende, die den Weg in das Entbindungsheim Zum Bahnhof 28 finden, Frauen also, die bereits eine Kliniksgeburt hinter sich haben. Das Ehepaar Heidorn hat hier eine alte baufällige Scheune renoviert und unter der Leitung von Dorothea Heidorn ein gemütliches, aber modern eingerichtetes Fachwerkhaus entstehen lassen. Neben dem Empfangsraum mit einer großen Wiege liegt der Entbindungsraum, ein großzügiges Bad, Versorgungsraum und eins der drei 2-Bettzimmer. Im ersten Obergeschoß dann der Aufenthalts- und Eßraum sowie weitere Bäder und Zweibettzimmer - alles mit Kiefernmöbel eingerichtet. "Die Frauen, die hier bis zu 7 Tagen bleiben, sagen, das ist die reinste Erholung hier, während viele Frauen in der Klinik darauf hoffen rauszukommen, um sich von dem Kliniksaufenthalt zu erholen", erklärt Ingrid Bellof, die selber zwei Kinder hat, in der Nachbarschaft wohnt und hier vormittags den laufenden Betrieb bis auf die Entbindung selbst unterstützt.
Tatsächlich sind die Geburtsbedingungen auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen, Kinder und nach Wunsch auch der zukünftigen Väter zugeschnitten. Wenn die Frauen, die zumeist schon die Geburtsvorbereitungskurse bei Dorothea Heidorn besucht haben, zum Entbinden kommen, werden sie zunächst untersucht, und können dann, bis die Geburt richtig losgeht, spazierengehen, ein Entspannungsbad nehmen oder Musik hören.
"Ich will den Frauen die Geburt wiedergeben. Deshalb soll auch jede Frau nach sich selbst entbinden", beantwortet Dorothea Heidorn die Frage nach der Berücksichtigung von in den letzten Jahren bekanntgewordenen Methoden sanfter Geburt. Deshalb wird schon in den Geburtsvorbereitungskursen eine Methodenvielfalt propagiert, aus der sich die Frauen das für sie passendste aussuchen können. Nach der Geburt können die Frauen ihr Kind auch am ersten Tag bei sich behalten. Hier gibt es auch keine starren 4-Stunden-Stillrhythmen oder das leidige 5-Uhr-Wecken zum Fiebermessen, wie in Krankenhäusern üblich.
Die 38-jährige Dorothea Heidorn blickt bereits auf eine langjährige Erfahrung als ausgebildete Krankenschwester, OP-Schwester und freiberufliche Hebamme zurück. Nach einer berufsbegleitenden Ausbildung wurde sie 1982 leitende Lehrhebamme an der Universitätsklinik und bekam den Auftrag, die dortige Hebammenschule aufzubauen. Nachdem sie das hiesige Geburtswesen von verschiedenen Seiten kennengelernt hatte, beschloß sie, sich selbständig zu machen und neben Haus- und Klinikgeburt einen dritten Weg anzubieten und am 1.7.85 ein eigenes Entbindungsheim zu eröffnen. Doch trotz positiven Medienechos und steigender Geburtenzahlen (bisher 30 Entbindungen), die das offensichtliche Interesse belegen, folgten Kritik und Schwierigkeiten auf dem Fuße. So rügte ihr ehemaliger Chef aus der Universitätsklinik, Frauenkliniksdirektor Professor Wolfgang Künzel, es als "unverantwortlich, Entbindungen ohne entsprechende medizinisch-technische Überwachung vorzunehmen", ohne je das Entbindungsheim in Augenschein genommen zu haben. Da ist nämlich vom Wehentropf über die Saugglocke bis zum Herztonmesser auch das technische Gerät vorhanden. Im übrigen arbeitet das Entbindungsheim mit drei Gießener Frauenärzten, und es werden beim Auftauchen eines Risikos die Frauen schon frühzeitig an die Klinik verwiesen. Allerdings ist die traditionelle Gleichung "Gerätepark + Ärztestab inclusiv dem Herrn Professor = Sicherheit" für viele Frauen fragwürdig, und nicht nur deshalb, weil durch den Krankenhaus-Schichtdienst das Personal wechselt und am Wochenende die Kliniken auch meist nur mit Assistenzärzten besetzt sind. "Natürlich soll eine Frau in der Klinik entbinden, wenn ihr der Name oder die Anwesenheit eines Professors oder Arztes psychische Sicherheit vermittelt - selbst wenn die jeweils nur wenige Minuten bei der Geburt anwesend sind, während die Hebammen 18 Stunden dabei sind. Wichtig für die engagierte und resolute Hebamme ist aber das erwachende Selbstbewußtsein der Frauen über ihre eigene Fähigkeit, eine Geburt zu bewältigen und als etwas Produktives zu sehen, sich ihre Fähigkeiten wieder selber anzueignen. Wie relativ die heutige Einstellung zur "medizinischen Überwachung" ist, zeigt die Tatsache, daß bis 1950 auch in unserem Land ein eigenes ärztliches Attest nötig war, um überhaupt in einer Klinik entbinden zu können.
Ein größeres Problem als die Kritik der traditionellen Medizin am angeblich höheren Risiko stellt die Haltung der Krankenkassen dar. Diese wollen nämlich den Pflegesatz nicht übernehmen, obwohl der in Rödgen mit 150 Mark nur 1/3 des Krankenhaussatzes ausmacht. Dabei beruft man sich auf eine Kommission, die festgestellt hat, daß bereits ein Überangebot von 200 Betten im Raum Gießen bestehe und in der Konsequenz alle Anträge auf Aufnahme in den Bettenbedarfsplan abgelehnt werden. Doch soviel Unflexibilität gegenüber neuen Entwicklungen und Bedürfnissen im Gesundheitswesen trieb nicht nur Dorothea Heidorn, sondern auch einige Frauen auf die Barrikaden, die bei ihr entbunden haben und denen die Erstattung der Kosten von ihren Krankenkassen verweigert wurden. Mittlerweile stehen die Verfahren gegen den Vorstand der Krankenkassen kurz vor der Klageerhebung, und der beauftragte Rechtsanwalt Michael Schwenkenbecher sieht bei dem Rechtsstreit "durchaus Erfolgsaussichten" .
Natürlich steckt hinter der Auseinandersetzung weniger das angebliche Sparmotiv der Kassen, die ja ohnehin besser mit solchen Häusern fahren würden, sondern ein medizinpolitischer Konflikt. Denn trotz der Propagierung von Kostendämpfung, Dezentralisierung und Bürgernähe sind schon kleine Projekte wie das Entbindungshaus "In den Brunnengärten" der Lobbystarken Ärzteschaft und der sehr ähnlich denkenden "Krankenkassen-Männerwirtschaft" (Heidorn) eine unbequeme Herausforderung. Denn sie drücken den wachsenden Wunsch nach gesundheitlicher Selbstbestimmung und -organisation aus und laufen damit dem etablierten Expertokraten-Schema entgegen. "Das größte ärztliche Wissen", so Dorothea Heidorn mit ironischem Hintersinn, "hat aber letztlich noch nicht verhindert, daß ein Kind spontan auf die Welt kommt." Ein Motto, das sich manche Ärzte und Krankenkassenverwalter anläßlich des Weihnachtsfestes ruhig einmal durch den Kopf gehen lassen sollten.
Ril
Express, Gießener Magazin, Dezember 1985, S. 4/5