Wo bleibt die Sicherheit für Mutter und Kind?

Der Direktor der Universitäts-Frauenklinik, Prof. Dr. Wolfgang Künzel, zum Thema private Entbindungsheime

GieBen (vm). »Prinzipiell kann ich die Frauen gut verstehen, wenn sie nach Einrichtungen suchen, in denen eine intimere Atmosphäre herrscht und sie eine stärkere Hinwendung durch das Personal zu finden meinen. Auf der anderen Seite ist es unverantwortlich, Entbindungen ohne entsprechende medizinisch-technische Überwachung vorzunehmen. Ein Arzt, eine Hebamme und Spezialgeräte wie das Kardiotocogramm zur Überwachung der kindlichen Herzfrequenz sind das Minimum an medizinischen Voraussetzungen für eine sichere Geburt. Außerdem müssen die Vorbedingungen für eine Schnellverlegung des Kindes sowie für eine Sectio gegeben sein«. Mit diesen Worten nahm der geschäftsführende Direktor der Gießener Universitäts-Frauenklinik, Professor Dr. Wolfgang Künzel, zum Thema private Entbindungsheime Stellung. Nicht die Umgebung, die solche Einrichtungen den Gebärenden bieten können, sondern die erhöhte Gefahr möglicher Risiken sind es, die der Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zu bedenken gibt.
Perinatalstudien über die QuaIitätskontrolle und -sicherung geburtshilflicher Maßnahmen (auch die JLU führt - wie die AZ berichtete - seit 1981 eine derartige Studie für den hessischen Raum durch) zeigten, daß die Optimierung der Geburtshilfe unter anderem durch die verbesserte medizinisch-technische Ausstattung, durch die Konzentration von Risikogeburten in Zentren der Maximalversorgung sowie durch eine stärkere Regionalisierung der Einrichtungen erreicht werden konnte. Trotzdem wurde festgestellt, daß selbst bei Fällen, in denen keinerlei Hinweise aus der Familien- oder Geburtsgeschichte auf Probleme hindeuteten, noch immer in 17 Prozent Risiken auftreten.
Die perinatale Mortalität - das ist die Sterblichkeitsziffer der Kinder, die unmittelbar vor, während oder nach der Geburt sterben - konnte dabei bundesweit auf 0,9 bis ein Prozent gesenkt werden. Auch an der Gießener Frauenklinik liegt der Wert nach Angaben von Prof. KünzeI derzeit bei 0,9 Prozent, obwohl hier vor allem Risikokollektive wie beispielsweise Frühgeburten behandelt werden. Die perinatale Mortalität bei Hausgeburten und solchen entspreche auch die Niederkunft in Entbindungsheimen - liege dagegen bei zwei Prozent, also mehr als dem Doppelten.
»Auch die Kliniken bemühen sich inzwischen, ihren Patientinnen eine freundliche, ansprechende Umgebung zu bieten«, erklärte der Direktor der Frauenklinik. Daß der angehende Vater seiner Frau beistehen, sie so oft wie möglich besuchen und auch bei der Geburt dabei sein darf, sei heute praktisch selbstverständlich. Ferner sei die Gießener Universitätsklinik im Zuge der Hebammenausbildung in der Lage, jeder Gebärenden eine Hebammenschülerin zuzuordnen - »die im Notfall jedoch sofort eine erfahrene Hebamme und/oder einen Arzt hinzurufen kann«.
»Eine schöne Umgebung reicht einfach nicht aus. Jede Einrichtung, in der Entbindungen vorgenommen werden, muß bestimmte Anforderungen an die Geburtsüberwachung erfüllen, das heißt, es müssen ein Arzt und eine Hebamme anwesend sein, die lückenlose Überwachung muß gewährleistet und man muß auf Notfälle bis hin zum Kaiserschnitt vorbereitet sein. Ansonsten sollten keine Entbindungen vorgenommen werden. Innerhalb der letzten fünf Jahre konnten wir erreichen, daß sechs bis 14 Prozent aller Frühgeburten in Kliniken entbunden wurden, das bedeutet, das Problembewußtsein der Patienten hat eindeutig zugenommen. Grundsätzlich gehören Risikofälle aller Art in die entsprechenden Spezialzentren«, meinte Prof. Künzel zum Abschluß.
Langfristig sieht der Direktor der Frauenklinik auch für die Bundesrepublik eine Tendenz zur Regionalisierung: Kleinere Entbindungsheime werden zu Zentren zusammengefaßt.



Giessener Allgemeine, 27.07.1985, S. 27