Drei Tage lang wurde das Thema Geburt diskutiert

Gemeinsame Veranstaltung von Vereinen mit Frauenbeauftragter der Stadt und auch Teilnehmern aus der DDR

Gießen (cs). "Schwangerschaft ist keine Krankheit". Diese Feststellung stand im MIttelpunkt einer Tagung, die die "Gesellschaft für Geburtsvorbereitung e.V." (GfG), der Verein "Bewußte Geburt und Elternschaft" aus Gießen und Ursula Passarge, die Frauenbeauftragte der Stadt, organisiert haben. Drei Tage lang diskutierten die Frauen, die aus der gesamten Bundesrepublik und der DDR in das Entbindungshaus nach Rödgen gekommen waren, das Thema Geburt. Dabei ging es ihnen um die natürliche und die selbstbestimmte Geburt, sowie die bewußte Elternschaft.

Die dritte Tagung der GfG wandte sich an Vertreterinnen autonom arbeitender Geburtshilfezentren. Neben zahlreichen Interessenten aus der Bundesrepublik waren auch Teilnehmer aus der DDR und aus Luxemburg zu dem Treffen gekommen.
Ziel der Veranstalter war es, auf die "viel zu geringe Förderung" der Langzeitbegleitung zukünftiger und junger Eltern hinzuweisen. Die Finanzierung dieser Arbeit sei das Hauptproblem" erklärten die Frauen, obwohl der Bedarf an ihrer Arbeit wachse. Die Grenzen der ehrenamtlich arbeitenden Frauen seien erreicht und an alle öffentIichen Stellen gehe die Aufforderung, solche Arbeiten besser oder überhaupt zu bezahlen. Es solle nicht in die "Beseitigung von Leben", also in die Rüstung, sondern in die Lebenserhaltung investiert werden, faßte Evelin Ackermann, die zweite Bundesvorsitzende der GfG zusammen.
Der Grund für die fehlende öffentliche Förderung sei die Tatsache, daß sich die Bedeutung der Langzeitbegleitung vor, während und nach der Geburt noch nicht zahlenmäßig erfassen lasse, erklärten die Verantwortlichen. Es sei jedoch ein ModeIlversuch an 100 Erwachsenen und 50 Kindern gestartet worden, der zur Zeit ausgewertet wird und bereits jetzt die Bedeutung der Langzeitbegleitung belege. So sei durch diese Arbeit die Frühgeburtenrate zurückgegangen und die Stillfreudigkeit der Mütter habe 98 Prozent erreicht.
Besonderes Gewicht legten die Frauen auf die Feststellung, die Hausgeburt sei sicherer als die Klinikgeburt. Das sei dann der Fall, erläuterte die Hebamme Susanne Kühnel aus München, wenn keine Komplikationen bei der Geburt zu erwarten seien. Unter diesen Umständen sei bei Hausgeburten die Kaiserschnittrate geringer, die Kinder seien ruhiger, würden besser trinken, hätten weniger Geburtsgewichtsverlust und bekämen auch seltener die "Kindergelbsucht".
Die Frauenbeauftragte Ursula Passarge erklärte, die Entwicklung zur natürlichen Geburt stehe noch am Anfang. Der Bedarf der Langzeitbegleitung sei nicht nur sichtbar, sondern die offiziellen Stellen hätten bereits Mühe, ihn zu bremsen. Die Rückkehr zur Hausgeburt sei das "Indiz einer Entwicklung von Frauen, die nach einer langen Zeit der Fremdbestimmung mitten im Prozeß sind, sich zurückzuholen, wozu sie früher einmal in der Lage waren".
Das Ergebnis der Tagung sind mehrere Forderungen, die die Frauen an Staat und Gesellschaft richten. Im Vordergrund steht dabei die Bezahlung. Auf Bundesebene solle dafür gesorgt werden, daß die Arbeit der Hebammen und Geburtsvorbereiterinnen entsprechend finanziert werde. Außerdem fordern die Frauen eine Veränderung der Hebammenausbildung. Diese Ausbildung gehöre in "Hebammenhand" und müsse inhaltlich den Wünschen der Frauen nach Langzeitbegleitung vor und nach der Geburt besser angepaßt werden.
Ursula Passarge sagte, es sei jetzt nötig, Bündnispartner für den Aufbau eines Netzes von Geburtshilfeinitiativen zu finden. Diese Arbeit sei eine "Investition in die Zukunft" und entspreche staatlicher "Familienpropaganda".



Gießener Anzeiger, 28.05.1990