Geburtshilfe: 245 DM brutto für die Hebamme

Gesellschaft für Geburtsvorbereitung: Das ist zu wenig - Tagung zu Geburtsvorbereitung und Arbeit der Hebammen in freier Praxis

Gießen-Rödgen (av). »Geburt ist keine Krankheit«: So lautet ein Resümee einer bundesweiten Tagung vom Donnerstag bis zum Samstag im Entbindungshaus »In den Brunnengärten« unter dem Motto »Natürlich gebären - selbstbestimmt gebären - bewußt EItern sein«. Eingeladen hatten die Gesellschaft für Geburtsvorbereitung (GfG), der Gießener Verein für »Bewußte Geburt und Elternschaft« und Ursula Passarge, Frauenbeauftragte der Stadt Gießen. Die Veranstaltung, zum dritten Mal in dieser Art angeboten, hatte 35 Teilnehmerinnen, davon einige aus der DDR und Luxemburg. Dabei wurden als wichtige Forderungen genannt: Hebammen und Geburtsvorbereiterinnen sollten adäquat, also besser als bislang, bezahlt werden; Veränderungen bei der Hebammen-Ausbildung; die Ausbildung zur Geburtsvorbereitung solle anerkannter Beruf sein; das soziale Netz solle ohne staatliche Bevormundung ausgeweitet werden.

Die Tagung richtete sich hauptsächlich an Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen, der autonomen Geburtsvorbereitung sowie Hebammen in freier Praxis und in Geburtshäusern. Während eines Pressegespräches am Samstagmittag informierten Evelin Ackermann (Nastätten), Geburtsvorbereiterin und zweite GfG-Bundesvorsitzende, GfG-Geschäftsführerin Lorraine Caukin, die Psychologin und Geburtsvorbereiterin Susanne Rothmaler (Ost-Berlin), Gabriele Kemmler (Frankfurt) vom GfG- Vorstand, Frauenbeauftragte Ursula Passarge, Gudrun Scholz von »Bewußte Geburt und Elternschaft«, sowie die Hebammen Dorothee Heidorn (Leiterin des Rödgener Entbindungshauses) und Susanne Kühnel (München).
Als gemeinsames Anliegen verdeutlichten sie, Schwangerschaft und Geburt wieder mehr als soziales Geschehen zu verstehen und die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Gleichzeitig gewinne auch die Begleitung und Unterstützung junger Eltern nach der Geburt an Bedeutung, wurde betont. Am Freitag standen drei Plenumsveranstaltungen im Mittelpunkt: »Das Projekt Familienhebamme - Aufgaben und bisherige Erfahrungen in der praktischen Arbeit« von der Familienhebamme Margret Landig (Hannover), »Geburtsvorbereitung in der DDR - Bedingungen in den Geburtskliniken« von Susanne Rothmaler (Poliklinik Ost-Berlin) sowie »Erfahrungen mit der Langzeitbegleitung und Begleitung werdender und junger Eltern«. Ansonsten gab es Erfahrungsaustausch in Kleingruppen, Informationen über die laufende Arbeit in Zentren (Geburtsvorbereitung, Familienbegleitung, Selbsthilfegruppen), im Geburtshaus, im Entbindungsheim und in der Hebammenpraxis.
Die Forderung nach besserer Bezahlung für Hebammen untermauerten die Teilnehmerinnen mit der derzeitigen Bruttbsumme von 245 DM für eine Geburt, zudem werde die Beratungstätigkeit der Hebammen nicht bezahlt. Ackermann erklärte, daß viele Frauenärzte ihr Monopol im Hinblick auf Vor- und Nachbereitung nicht verlieren wollten. Die GfG, so wurde betont, bereite auch Frauen vor, die in der Klinik entbinden wollten. Nach den Worten von Scholz geht es nicht um ein entweder/oder zwischen Klinik und Hausgeburt, sondern um die Möglichkeit, daß Frauen wählen könnten. Kühnel unterstrich, daß Hausgeburten sehr sicher verliefen, wenn vorher abgeklärt sei, daß keine oder nur geringe Komplikationen zu erwarten seien. Ein zweijähriges Modellprojekt in Unna belege Vorteile wie hohe Stillfreudigkeit, weniger Frühgeburten, sehr geringe Verlegungsrate, die Säuglinge seien ruhiger und wacher.
Mehr öffentliche Förderung für Beratungstätigkeit, die häufig ehrenamtlich von Frauen geleistet werde, Zuschüsse für Einrichtungen außerhalb von Kliniken, natürliche Geburt als Teil der Hebammen-Ausbildung - Forderungen, die die Teilnehmerinnen des Pressegespräches betonten. Ebenso Leistungen, die Frauen in Anspruch nehmen könnten und welche die Krankenkassen bezahlten: Schwangerschaftsvorsorge bei einer Hebamme, Besuche bei Hebamme und Arzt, Hausgeburtshilfe und Wochenbettnachsorge (auch nach der Klinik). Und sie verwiesen auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), nach denen die ambulante Betreuung ausgebaut werden solle. Passarge betonte, daß für Gießen eine Informationsbroschüre rund um die Geburt geplant werde.



Giessener Allgemeine, 28.05.1990