Der Baby-Bahnhof

Bericht: Heiner Schultz

Was tun, wenn ein Baby kommt? Diese zunächst simpel erscheinende Frage ist von größerer Bedeutung - und mit größeren Risiken verbunden - als man zunächst annimmt. Zwar sterben in der BRD nur sehr wenige Neugeborene (1960: 3%, 1990: 0,6%), doch in Finnland und Schweden sind es noch weniger. Eine Geburt wird weithin als eine Angelegenheit betrachtet, die am besten im Krankenhaus erledigt wird. Es gibt jedoch im Lande immerhin acht Alternativen, die ebenso akzeptabel und doch weithin unbekannt sind. Eine davon fand IMAGE in Rödgen bei Gießen.

In der Nähe des ehemaligen Bahnhofs hat Dorothee Heidorn ihr Entbindungshaus. Die staatlich geprüfte Lehr-Hebamme bietet dort eine Dienstleistung an, die eine echte Alternative zur Krankenhausentbindung darstellt: In einem gemütlichen, blitzsauberen Fachwerkhaus können Frauen in häuslicher Umgebung ihr Kind bekommen. Wie das Gesetz es befiehlt eben unter "Hinzuziehung" einer Hebamme (Die Gegenwart eines Arztes ist von Gesetzes wegen bei dieser Gelegenheit übrigens nicht vorgeschrieben). In Rödgen sind natürlich sämtliche professionellen Gerätschaften und Materialien vorhanden, die im Normalfall vonnöten sind.

Normal oder Risiko?
Etwa 80% aller Geburten könnten nämlich als normal eingestuft werden und sind mit dem gleichen oder geringerem Risiko wie in einer Klinik für Mutter und Kind daheim oder in einem Geburtshaus durchführbar. Im Falle eines Falles wird in Rödgen seit Jahren mit "einer nahegelegenen Klinik" erfolgreich zusammengearbeitet.

Wie sicher sind die Risikozahlen?
In einer Studie ergab sich, daß nach einer als "risikofrei" eingestuften Schwangerschaft "immer noch bei 24% aller Schwangeren geburtshilfliche Risiken auftreten. Und bei ca. 40% der Schwangeren, mit [...] Risiken [...] treten unter der Geburt keine Risiken auf" (Deutsehe Hebammen-Zeitschrift 3/91). Die Verläßlichkeit der heutigen Risiko-Einstufungen (fast 50% aller Schwangeren) ist demzufolge nicht besonders hoch: "Die Grenzziehung zwischen gesund und krank wird in bedenklicher Weise verschoben" (DHZ). Und wer krank ist, gehört bekanntlich ins Krankenhaus. Das findet Dorothee Heidorn übrigens auch.

Vorteile, Vorteile?
Was ist so gut an einem Geburts- oder Entbindungshaus? Erstens ist es ruhig und gemütlich wie zu Hause, man kann zum Beispiel seine eigene Musik hören, und die Frau ist nur in Kontakt mit Hebamme und Assistentin. Also erhöht sich das Keimniveau nur um zwei Personen, denn mit den eigenen und denen des Mannes kommt die Frau zurecht. In den Kliniken liegt das Infektionsrisiko durch die resoluten Krankenhauskeime bei 20%. Außerdem lernt man dort bei einer Entbindung etwa drei Hebammen sowie mindestens ebensoviele Krankenschwestern und Ärzte kennen. Letztere untersuchen womöglich alle die Schwangere und erhöhen das Infektionsrisiko nochmals. Bei Hausgeburten und in der privaten Atmosphäre in Rödgen ist auch die Wochenbettdepression erheblich seltener, die sehr viele Frauen nach der Geburt befällt: Schlagartig ist eine zweite Rolle zu spielen - meistens allein und unter der neu entstandenen DoppeIbeIastung. Außerdem fällt der Krankenhausaufenthalt nachher selten besonders erholsam aus, und wer möchte denn sechs Tage (die Kassen zahlen mindestens 1+6 Tage) in einem Vierbettzimmer bleiben, selbst wenn alles in Butter ist? Da läßt es sich in den freundlichen Zweibettzimmern in Rödgen schon besser ausspannen, wo nicht besucht werden muß, sondern zusammengelebt werden kann. Und zu nachtschlafenden Unzeiten wird man dort nicht geweckt.

Gutes billiger genießen?
Nichts da: Die AOK (die sich zu diesem Thema überhaupt nicht äußern wollte) zahlt zwar ohne zu mucken den Tagessatz von DM 544,92 in der Uniklinik (Krankenhaus Lich: DM 316,37; Evangelisches Schwestemhaus Gießen: DM 307,77; St.Josefs-Krankenhaus DM 289,61), womit sich der statistische NormalfalI in Gießen auf schlanke DM 3269,52 summiert, im finanziell günstigsten sind es DM 1737,66. In Rödgen kostet so etwas einschließlich Vorbereitungskursen, Vorsorge, Beratung und Nachsorge normalerweise DM 800. Dort bezahlen die Kassen jedoch nur die Geburt sowie Vor- und Nachsorge (wofür Hebammen laut Gesetz vorgesehen sind). Der Tagessatz für's Doppelzimmer mit Vollpension zum "Ausruhen und Sich-bemuttern-lassen" liegt bei DM 159.

Und nochmal: das Risiko?
Dorothee Heidorn läßt vorher alle denkbaren Geburtsrisiken von kompetenten Ärzten abklären, soweit sie dazu selbst nicht in der Lage ist. Findet sich eins, das sie nicht kompensieren kann, übergibt sie die Verantwortung einem Arzt. Wie gesagt, das kommt nicht oft vor. Außerdem streiten sich die Experten beim Thema Risiko erheblich. Die Kaiserschnittraten gehen in der BRD auf 25% zu (Prof. Dr. Künzel, Uniklinik: "In Gießen 15%"), in den Kreißsäälen häufen sich zuweilen die Auseinandersetzungen unter dem Personal, und der Großbetrieb läßt wenig Raum für individuelle Rücksichten. Zudem werden nach Ansicht auch von Experten viel zu oft Schmerz- und Wehenmittel angeboten und verwandt.

Individualität nicht nur beim Mobiliar
Im Rögener Geburtshaus werden nicht nur alle möglichen Geburtslagen erklärt und vorher ausprobiert, es besteht auch später völlige Freiheit, sein Kind so auf die Welt zu bringen, wie es die Mutter mag - die Hilfsmittel sind alle da. Die übliche Rückenlage ist eher ein Zugeständnis an den Kliniksalltag, das bekannte Bett steht allerdings auch zur Verfügung. Natürlich können Frauen dort ihr Kind aber auch in der Badewanne bekommen.



Dorothee Heidorn, 44, ist seit einundzwanzig Jahren im Beruf tätig, ihre "Babyquote" liegt derzeit bei 4500. Sie ist "leider noch nicht geschieden", baute Anfang der achtziger Jahre die Gießener Hebammenschule der Frauenklinik unter der Hoheit von Prof.Dr.Künzel auf (0-Ton Künzel damals: "Meinen Segen haben Sie") und leitete sie vier Jahre lang. Dann hatte sie genug "von einer Humanmedizin", in die sie, "selbst in leitender Position nichts Menschliches mehr einbringen" konnte. Seit Juli 1985 führt sie in Rödgen das Geburtshaus und klagt seit 1986 beim Sozialgericht, weil ihre Berufsausübung "nicht im weitesten Sinne" möglich ist: Die Kassen wollen die Wochenpflege (so heißt die Erholungsphase nach der Geburt) in ihrem Haus nicht bezahlen. Sie will "den Schutz der unökonomischen Zeit" der Frau und möchte "die Mystik ums Gebären herum entmystifizieren," sie findet; "Je schlichter, desto schöner." Für Weltanschauliches ist sie jedoch offen: "Ich interessiere mich für alles, wende aber nichts an. Die Frauen sollen nach sich selbst entbinden - nicht nach mir."


GEGENSTIMMEN ZUM GEBURTSHAUS:
Nur Gemurmel
Ein bekannter Gießener Gynäkologe erwähnte zwar einmal in einem seiner Vorbereitungskurse, daß es in Rödgen ein Geburtshaus gäbe, fuhr dann jedoch fort: "Über die beruflichen Fähigkeiten der Frau Heidorn möchte ich aber lieber nichts sagen." Das ist verständlich, aber konkurrenz belebt das Geschäft.
Prof. Dr. Künzel von der Gießener Frauenklinik meinte auf die Frage zu möglichen Nachteilen des Geburtshauses zum IMAGE "Da war was", wollte jedoch auch bei ausgeschaltetem Bandgerät partout nicht sagen, was. Es liegt nahe, daß es nichts Schwerwiegendes sein kann, sonst hätte man die Einrichtung zweifellos schon längst geschlossen.
Wir befragten außerdem den renommierten Gießener Gynäkologen Dr. Schubring zum Thema. Er äußerte jedoch nur, daß er wegen seiner geburtshilflichen Tätigkeit in einem Gießener Krankenhaus keinen Kommentar abgeben könne. Was zumindest ausschließt, daß er etwas Nachteiliges zu sagen hat, während es nahelegt, daß er Positives nicht sagen möchte, um seinem Arbeitgeber keinen vermeidbaren Wettbewerb zu schaffen.
hsc


Die totale Sicherheit?
Prof.Dr.Wolfgang Künzel, 54, ist Chef der Uni-Frauenklinik. Im Gespräch mit dem IMAGE vertrat er unbeirrbar den Standpunkt, daß außer in einer optimal eingerichteten Klinik keine Geburtsorte empfehlenswert seien. Auch Prozentzahlen zu "normal" zu nennenden Geburten waren nicht zu erfahren, vielmehr verwies er auf (unbestrittene) Fortschritte in der Individualisierung der Geburten in seiner Klinik, rückte hingegen keine Zahlen über das Verhältnis von Gebärenden zu Hebammen heraus. Auch zum Infektionsrisiko durch Krankenhauskeime schwieg er, bezeichnete den Zusammenhang zwischen Hausgeburten und niedrigerer Kindersterblichkeit in Holland als "Märchen" und kehrte immer wieder zum zentralen Punkt seiner Argumentation zurück: "Jedesmal wenn wir über die Straße gehen, gehen wir ein Risiko ein. Wenn ich ein solches Risiko aber [bei einer Geburt] ausschließen kann, dann muß ich das doch tun." Sind Geburten folglich nur gesund im Krankenhaus?
hsc


Der Kommentar
Gefahren oder Konkurrenz? Bei den Recherchen zu diesem Beitrag ergaben sich zahlreiche Hinweise darauf, daß zwar einige wenige Vorbehalte gegenüber dem Rödgener Geburtshaus bestehen, diese jedoch keine sachliche Basis haben. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Gemisch von Einzelinteressen: Hebammen machen bundesweit niedergelassenen Gynäkologen und Ärzten sowie Kliniken Konkurrenz, denn Individualität können die Krankenhäuser nicht bieten; sie müssen vielmehr mit ihren Kostenproblemem fertig werden. Die Krankenkassen halten sich beim billigen Rödgener (und anderswo bestehenden) Angebot züchtig bedeckt und warten ab, was die Gerichte entscheiden: Werden Geburtshäuser und Dienste der Hebammen aufgewertet, kommen (durch billigere Leistungen) finanzielle Probleme für die Kliniken, an deren Erhaltung sie durchaus korrekterweise interessiert sind. Viele Ärzte wiederum haben Schwierigkeiten, weil kompetente Hebammen sich als erfolgreiche Konkurrenz erweisen. Solange jedoch nur blanke Häme oder ominöses Gemurmel die fehlenden Argumente gegen eine untadelige Einrichtung ersetzen, muß man weiterhin zweifeln, ob die Krankenhäuser tatsächlich die einzig segensreichen Ankunftsorte für Kinder auf dieser Welt sind.
Heiner Schultz


Image, Mai 1991