Adveniat!
Entbindungshaus "In den Brunnengärten" / Rödgen
Als Maria vor ziemlich genau 2000 Jahren ihren Sohn zur Welt brachte, hatte sie keine große Auswahl. Mangels eigenem Heim oder Krankenhaus kam Jesus in einer "Stallgeburt" zur Welt. Mit Josef als Geburtshelfer, über dessen Geschick die Bibel kein Wort verliert. Bekanntlich verhinderten solche Umstände der Überlieferung nach keineswegs, daß die Geburt glatt verlief und noch heute alljährlich von einer zehnstelligen Zahl von Menschen gefeiert wird.
Zwei Jahrtausende später warten hochtechnisierte Kliniken auf die Schwangeren, doch die Begeisterung über solche Versorgung hat sich in den letzten Jahren wieder merklich abgekühlt. In einer ausgebauten ehemaligen Fachwerkscheune mit Nebengebäuden in Rödgen, die zu einem Hofgut der Fürsten zu Buseck gehörten, ist 1985 ein Entbindungshaus "Zu den Brunnengärten" entstanden, das sich als Alternative zum fremdbestimmten Kliniksbetrieb versteht. Mit sechs Betten, Entbindungsraum, Küche, Gymnastik-, Gemeinschaftsraum und Garten ist das Entbindungshaus "Zu den Brunnengärten" für etwa 250 Geburten im Jahr konzipiert: Von ambulanten Geburten, Entbindungen mit anschließendem Wochenbettaufenthalt (auch mit Vater) bis zu externen Geburten, bei denen die Gebärende z.B. zur Kaiserschnitt-Entbindung ins Krankenhaus verlegt werden muß, für die Wochenbettpflege aber wieder nach Rödgen zurückkehrt.
Abgesehen vom Ultraschall bietet das Haus alle Möglichkeiten der Vorsorgeuntersuchung: Vom Blut- und Urintest bis zur Aufzeichnung der kindlichen Herztöne. Hier finden vor der Geburt auch Geburtsvorbereitungskurse und Vorsorgeuntersuchungen sowie Rückbildungsgymnastik, Bauchtanzkurse und Ganzkörpermassage in Sahne sowie Fußmassage nach der Geburt statt.
"Das größte ärztliche Wissen", so die Initiatorin Dorothea Heidorn, "hat letztlich nicht verhindert, daß ein Kind spontan auf die Welt kommt." Auf hintersinnige Weise wird damit das benannt, was der langjährigen Lehrhebamme an der Gießener Uniklinik und ausgebildeten Krankenschwester wichtig ist: Die ärztliche Dominanz bei der Geburt zugunsten der Hebammen und der Selbstbestimmung der Gebärenden selbst zurückzudrängen.
Als Dorothea Heidorn (Jg. '46) im Sommer 1985 ihr Projekt startete, waren es in erster Linie Zweitgebärende, die den Weg zu ihr fanden. Frauen, die sich mit den üblichen KIiniksgeburten nicht abfinden wollten, obwohl Prof. Wolfgang Künzel, Direktor der Universitäts-Frauenklinik, es als "unverantwortlich" be zeichnete, "Entbindungen ohne entsprechende medizinisch-technische Überwachung vorzunehmen". Die Warnung schockte immer weniger Frauen, und mittlerweile sind es ca. 120 Frauen, die in Rödgen entbinden, wobei der Anteil der Erstgebärenden immer weiter zunahm.
Eine Totgeburt hat es in dem Entbindungshaus noch nie gegeben, bei den ca. 4 % Notgeburten klappte die Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik gut. Dorothea Heidorn wünscht sich allerdings für die Zukunft, daß sie bei einer Notüberweisung in die Klinik als verantwortliche Hebamme bei der Gebärenden bleiben kann.
"Wie eine angenehme Kur" empfand eine Biochemikerin den Rödgen-Aufenthalt bei der Geburt der Tochter Rebecca. Eine Fotoingenieurin, die den gleichen Geburtsvorbereitungskurs besuchte, sprach vom "Erlebnis Geburt", das hier ganz anders als in Krankenhäusern möglich sei.
Aber nicht nur gegen die Skepsis der traditionellen Medizinerschaft hat Dorothea Heidorn, mittlerweile verstärkt durch die jüngeren Hebammen-Kolleginnen Monika Essinger und Birgit Kissel, anzukämpfen. Seit Bestehen der "Brunnengärten" macht die Verweigerungshaltung der Krankenkassen viel größere Probleme. Diese wollen nämlich - trotz Seehofers Sparanstrengungen - den Pflegesatz von 159 DM/Tag (Zweibettzimmer, Bad und vegetarische Kost) nicht übernehmen, obwohl der nur ein Drittel des Krankenhaus-Pflegesatzes (582,20 DM) ausmacht. Die Kassen berufen sich darauf, daß in Gießen ein Überangebot an Betten bestehe und mithin Anträge auf Aufnahme in den Bettenbedarfsplan abzulehnen seien. Immerhin hat sich Grünen-Ministerin Iris Blaul sogar persönlich in Rödgen eingefunden, um Unterstützungsmöglichkeiten zu sondieren. Auch ein eigens gegründeter Verein "Bewußte Geburt und Elternschaft e. V. " mit 50 Mitgliedern setzt sich in kämpferischen Briefen für eine Kostenübernahme ein.
Denn bisher müssen Frauen alles aus eigener Tasche finanzieren. Nicht immer ist die Zahlungsmoral sehr gut - Finanzchefin Heidorn beklagt derzeit 13000 DM Außenstände. Nicht immer gut ist sie auch auf das Verhalten der Männer zu sprechen: "Der Mann ist oft ein großes Geburtshindernis", schimpft sie, "wir müssen auch die Selbstbestimmtheit der Frau schützen".
Zwei Drittel der Frauen entbinden hier ambulant, die Verweildauer der anderen liegt bei durchschnittlich vier Tagen. Die drei Hebammen kommen aber auch zu Hausgeburten. "Hier wird man nicht für dumm verkauft", lobt eine Studentin beim Geburtsvorbereitungskurs. "Da wird alles angesprochen, selbst wenn man es manchmal gar nicht hören will", ergänzt ihr Freund. Für Dorothea Heidorn, selbst Mutter einer 20jährigen Tochter, die sie allerdings in einer Klinik zur Welt brachte, ist die Bilanz nach mehr als sieben Jahren trotz der Finanzprobleme positiv: Einerseits würden sich Frauen auf andere Gebärmöglichkeiten besinnen. Zum anderen würde das Entbindungshaus aber auch Hebammenschülerinnen Mut machen, sich nicht mit ihrer untergeordneten Stellung im traditionellen Klinikbetrieb abzufinden. Hier werden Praktika absolviert, und manchmal statten Hebammenschulen klassenweise Besuche ab, um das Werbemotto des Hauses zu überprüten: "Ein guter Ort, um anzukommen." RiL
Kontakt: Entbindungshaus "In den Brunnengärten"
Zum Bahnhof 28
6300 Gießen-Rödgen
Tel. 0641/42221
Express, Giessener Magazin, November 1992, S. 4/5