Zur Geburt in den Pfarrhof
Für viele Frauen ist der ideale Ort für's Kinderkriegen noch nicht erfunden. Die Atmosphäre in den Kliniken wirkt ihnen zu unpersönlich, beim Gedanken an eine Hausgeburt werden sie einen Rest an Ängsten nicht los. Bieten Geburtshäuser die ideale Lösung - gewissermaßen "in der Mitte dazwischen"?
Die Fachwerkbauten im ehemaligen Pfarrhof von Rödgen, ein paar Autominuten hinter der hessischen Universitätsstadt Gießen, verströmen Geborgenheit auf den ersten Blick. "Ich habe ganz spontan gesagt: Das ist das Nest, in dem ich mein Kind bekommen möchte", erinnert sich Sylvia Stadler. Den ersten Eindruck draußen bestätigt ein Rundgang durch das Haus; sogar im Entbindungsraum wiegen die "warmen" Eindrücke durch die Landhausfenster, die Vorhänge und den einladenden Korbsessel die "kalten" durch Kreißbett, Sauerstoffgerät, Wärmebettchen und Küchenzeile wieder auf.
Das Angebot: Seit 1985 betreibt die Hebamme Dorothee Heidorn in diesen Räumen eines der wenigen Geburtshäuser hierzulande; ungefähr 600 Babys kamen seitdem hier zur Welt. Danach können die Mütter mit ihren Babys und ihren Männem in eines von drei Zweibettzimmern (jeweils mit Bad) einziehen. "Ich finde, den Frauen steht diese Zeit zu", meint Dorothee Heidom, "erstens um ihr Baby in Ruhe kennenzulernen, zweitens um sich zu erholen und etwas für sich selbst zu tun."
Doch obwohl der alte Pfarrhof tatsächlich "Urlaubsgefühle" wachruft, wie die Hebamme sie den jungen Müttern wünscht, begnügen sich die meisten Frauen mit einer ambulanten Entbindung. Nur jede dritte bleibt mit ihrem Baby noch ein paar Tage unter Dorothee Heidorns Obhut. Mit gutem (?) Grund: Die gesetzlichen Krankenkassen erstatten ihren Mitgliedern zwar die Hebammen-Leistungen vor, unter und nach der Geburt, nicht aber den Pflegesatz von 159 DM pro Tag. (Die Kliniken in der Umgebung kosten das Doppelte und Dreifache.) Nur die Privatkassen kommen für beides auf.
Die Mütter: Die Frauen, die im Rödgener Pfarrhof entbinden, kommen weit überwiegend aus "Insider"-Kreisen: Ärztinnen, Krankenschwestern, Psychologinnen und Pädagoginnen. Viele von ihnen nehmen dazu weite Reisen in Kauf; die Mundpropaganda für das Geburtshaus reicht im Norden bis in die Umgebung von Köln, im Süden bis zur Schwäbischen Alb. Allerdings nimmt Dorothee Heidorn nicht jede Frau unter ihre Fittiche: "Wenn eine Frau zuwenig Selbstsicherheit entwickelt und große Angst hat oder wenn wir beiden uns nicht verstehen, bringt sie ihr Baby besser woanders zur Welt."
Die Methoden: "Frauen sollen bei mir nicht nach Lamaze, Leboyer oder Heidorn entbinden, sondern nach sich selbst", beschreibt Dorothee Heidorn ihren Standpunkt. Sie will die Frauen in der Geburtsvorbereitung so stark machen, daß sie selbst die Verantwortung bei der Geburt übernehmen. Dazu gehört auch, daß die Frauen lernen, sich selbst zu untersuchen und daraufhin zu entscheiden, wann sie zum Geburtshaus oder in die Klinik fahren müssen.
Genauso überläßt Dorothee Heidorn den Frauen die Entscheidung darüber, wie sie ihr Kind bekommen wollen, in der Hocke, im Liegen, im Knien, unter Wasser oder wie auch immer. Und: "Ich weigere mich, den Frauen ihr Baby sofort in den Arm zu drücken, wie das in vielen Kliniken geschieht, weil das angeblich für die Mutter-Kind-Beziehung so wichtig ist. Ich warte und lasse das Kind liegen und die Mutter durchatmen, bis sie es von sich aus aufnimmt."
Die Risiken: Vier von hundert Frauen, die im Rödgener Geburtshaus entbinden wollen, müssen während der Geburt verlegt werden, die Hälfte von ihnen, weil sie ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt bringen müssen. 15 Minuten benötigen sie bis zur Klinik; dort darf "ihre" Hebamme bei ihnen bleiben und sie - auch nach einem Kaiserschnitt - nach vier Tagen wieder abholen und in den alten Pfarrhof zurückbringen. Absehbare "Risikogeburten" schließt Dorothee Heidorn aus; Frauen, die unter Gestosen leiden, Mehrlinge erwarten, bei denen eine Frühgeburt (vor der 36. Woche) droht oder deren Babys mit dem Po voran (in "Beckenendlage") im Mutterleib liegen, verweist sie ans Krankenhaus.
Die Erfahrungen: Der Fernsehbericht über das Geburtshaus kam für Annette Gabor gerade rechtzeitig. Sie hatte die Atmosphäre sowohl bei einer Kreißsaalbesichtigung im Krankenhaus als auch bei der total überfüllten Geburtsvorbereitung als "schlimm" empfunden und suchte deshalb Alternativen. Allerdings hatte sie auch mit Dorothee Heidorn anfangs Probleme: "Sie erschien mir ein bißchen sehr robust." Aber nicht lange; bis zur Geburt "hatte sie mir soviel Sicherheit vermittelt, daß ich fest überzeugt war: Du könntest das auch alleine." Weil im Entbindungszimmer gerade eine andere Frau ihr Baby bekam, machten Annette und Helmut Gabor es sich auf einem Kissenlager in einem "normalen" Zimmer bequem. Dort brachte sie auch, von ihrem Mann gestützt, ihren Sohn Sebastian zur Welt. "Dorothee hielt sich dabei ganz im Hintergrund; sie hatte ihre wichtigste Arbeit schon vorher erledigt, indem sie mich sicher machte." Später "besuchte" die junge Familie noch die andere im Entbindungszimmer; "da haben wir gemeinsam Segenslieder für die beiden Kinder gesungen. Die Atmosphäre war einfach schön."
Stichwort Segenslieder: Für Dorothee Heidorn gehören sie und auch Segenstänze für die Kinder und Eltern nach der Geburt unbedingt dazu. "Wir kriegen unsere Kinder auch deshalb so schlecht, weil uns die Rituale dabei fehlen."
Auch für Lisa Behrendt ließ die Atmosphäre bei der Geburt ihrer Tochter Silvia keine Wünsche offen. Blumen, Kerzenlicht, der Lavendel-Duft aus dem Ollämpchen: Das alles habe sie zwar unter der Geburt nicht wahrgenommen, "da war ich ganz auf mich selbst konzentriert. Aber sofort nachher waren die Eindrücke da." Die gelernte Krankenschwester und ihr Mann hatten zwar schon den Vorbereitungskurs im Geburtshaus mitgemacht und dabei, so Lothar Behrendt, viel Sympathie entwickelt, sahen sich aber gleichzeitig auch in Krankenhäusern um. Befund: "Ich hatte das Gefühl, in der Klinik bist du als Vater nur unbeteiligter Zuschauer, während du hier im Geburtshaus echt gefordert bist." Er untersuchte auch, als seine Frau zu Hause Wehen spürte, wie weit der Kopf des Ungeborenen schon in den Geburtskanal gerutscht war und ob es Zeit für die Fahrt zum Geburtshaus war. "Ich hatte nachher das Gefühl: Wir haben das alle zusammen gemacht", erzählt Lisa Behrendt zufrieden.
Während sie zwei Stunden nach der Geburt mit Mann und Kind nach Hause zurückfuhr, entschied sich Ingrid Kmoch dafür, nach der Geburt ein paar Tage im Rödgener Pfarrhof zu bleiben; ihr Mann Rüdiger verbrachte das Wochenende und die Nächte ebenfalls bei ihr. "Ich wollte mich so vor Besucher-Attacken schützen", erklärt Ingrid Kmoch; außerdem habe sie sich nach der Geburt anfangs "sehr klapprig" gefühlt. Sie lobt die "traumhafte Unterstützung", die sie bei der Hebamme fand. In diesen Tagen habe sie sehr viel Selbstvertrauen für den späteren Umgang mit dem Baby tanken können.
Mag sein, daß vielen Frauen Geburtshäuser wie das von Dorothee Heidorn im Vergleich zu hoch technisierten Kliniken als zu "unsicher" erscheinen. Oder daß anderen die Segenslieder und -tänze nach der Entbindung "verdächtig nach Esoterik" schmecken. Auf der anderen Seite wären viele, die das Kinderkriegen eher als sehr persönliches Ereignis und weniger als medizinisches Problem verstehen, für ähnliche Alternativen zwischen Hausgeburt und Krankenhaus dankbar. Für die Kliniken bedeuten sie zunächst einmal Konkurrenz - aber auch eine Herausforderung, sich selbst um eine individuellere Geburtshilfe zu bemühen.
Josef Pütz
Leben und Erziehen, 4/1992, S. 22 - 24