"Gebären aus eigener Kraft": Eine Tagung stellt Geburtsmedizin in Frage
Hebammen: Krankenhaus ist nicht sicherer als die Hausgeburt - Informationen fehlen
Gießen (cb). 98 von 100 Frauen in DeutschIand bringen ihre Kinder in "Kranken"-Häusern zur Welt. Und das, obwohl weder Schwangerschaft noch Geburt Krankheiten sind. Die Gründe dafür sind einfach: So meinen zum Beispiel die Hebammen, daß die wenigsten Frauen über Alternativen zu der üblichen Geburtsmedizin informiert werden. Und viele Schwangere sind zudem noch verunsichert, da das Risiko einer Schwangerschaft hochgespielt wird. Die Tagung, die in Kürze in Gießen stattfinden wird, soll das Manko beheben helfen.
"Gebären aus eigener Kraft" - so ist das Motto derTagung, die vom 2. bis 4. April im Klein-Lindener Bürgerhaus stattfinden wird. Veranstalterinnen sind der Landesverband der Hessischen Hebammen, der Gießener Verein "Bewußte Geburt und Eltemschaft" und die Frauenbeauftragte. Ziel der Tagung, die nicht Fachgremium sein soll, sondern fur alle Interessierten offen steht, ist: Die werdenden Mütter sollen sich ihrer natürlichen Kraft bewußt werden.
Eine Geburt ohne Apparate, das können sich heute allerdings nur wenige werdende Mütter vorstellen. Sie wollen Sicherheit und meinen, die könne ihnen nur ein Krankenhaus bieten. Dabei, so erklärten gestern Lydia Willershausen und Ruth Kuhn vom Hessischen Landesverband der Hebammen, seien Krankenhäuser gar nicht der sicherste Ort für eine Entbindung. Schnell, ja oft zu schnell werde dort das Skalpell angelegt. Die Hebammen wollen aufräumen mit dem Vorurteil, Geburtshilfe sei Männersache.
Dabei soll es nicht um Bevormundung gehen. Im Gegenteil. Die Frau sollte die Wahl haben - das meinen die Veranstalterinnen. Jede müsse sich zwischen einer Hausgeburt, einer ambulanten Entbindung, einem Entbindungs- oder einem Krankenhaus entscheiden können. Zur Zeit, darauf weist Dr. Gudrun Scholz vom Verein "Bewußte Geburt" hin, sei die Wahlmöglichkeit aber noch beschränkt. Das hat schon finanzielle Gründe: Nicht jede Krankenkasse übernimmt die Kosten für eine alternative Entbindung. Obwohl, das wissen die Hebammen, die Hausgeburt beispielsweise günstig ist: 245 Mark schreibt die Gebührenordnung vor. Drei bis vier Tage Krankenhaus kosten dagegen einige tausend Mark. An den Gebühren ist allerdings auch die geringe Wertschätzung durch die etablierte Medizin Lobby abzulesen. "Die Ärzte fürchten um ihr Geld", meint Dr. Scholz.
Um die Geburt, die Vor- und Nachsorge zu diskutieren, haben sich die Organisatorinnen eine prominente Besetzung der Tagung ausgewählt: Das Eingangsreferat über "Die Macht der Frauen" hält Marina Gambaroff, Psychoanalytikerin aus Frankfurt am Donnerstag, 2. April, 19 Uhr. Die hessische Gesundheitsministerin Iris Blaul, gleichzeitig Schirmfrau, eröffnet die Tagung offiziell am Freitag, 3. April, 9.30 Uhr. Die Einführung gestaltet dann Marianne Grabrucker, Autorin des Buches "Abenteuer der Geburt". Prof. Dr. Marsden G. Wagner, lange Zeit Direktor der Weltgesundheitsorganistion, wird das Hauptreferat halten. Der Nachmittag steht im Zeichen der Hebammen: Angelika Josten und Isolde Brandstädter, Präsidentinnen des Bundes Deutscher Hebammen, sowie Astrid Limburg vom niederländischen Verband reden über Arbeitsbedingungen. Samstag, 4. April, 9.30 Uhr, gibt es ein Round-table-Gespräch, an dem sich die Referenten und - so ist es gedacht - auch das Publikum beteiligen können.
Gießener Anzeiger, 20.03.1992