Votum für die Wahlfreiheit bei der Entbindung Bundesweite Tagung von Hebammenbund, Frauen und Eltern erörterte Fragen zum Thema »Geburt« - Ministerin Blaul zu Gast Gießen-Kleinlinden (si). Eine »wirkliche Wahlfreiheit« bei der Entscheidung, ob eine Frau in der Klinik oder zu Hause ihr Kind zur Welt bringen will, haben die rund 150 Teilnehmerinnen und wenigen Teilnehmer am Freitag auf dem Kongreß »Gebären aus eigener Kraft« im Bürgerhaus Kleinlinden gefordert. Dazu müßten verschiedene Rahmenbedingungen verändert werden, erläuterten Redner auf dem noch bis heute dauernden Kongreß, der vom Bund deutscher Hebammen, dem Gießener Verein »Bewußte Geburt und EIternschaft« und der Frauenbeauftragten der Stadt Gießen gemeinsam veranstaltet wird. Im einzelnen sollten die nichtklinischen Entbindungsmöglichkeiten finanziell stärker unterstützt und die Stellung der Hebammen gestärkt werden, lautete eine mehrfach erhobene Forderung. Prominente Gastredner auf der Tagung waren die hessische Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Iris Blaul, als Schirmfrau sowie der Sektionsdirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Europa, Prof. Dr. Marsden G. Wagner. Daß die überwältigende Mehrzahl der werdenden Mütter zur Entbindung in die Klinik gehe und dort stationär bleibe, sei zwar unbestritten, aber kein Qualitätsmerkmal, war die einhellige Meinung des Plenums. Gerade das in der Öffentlichkeit häufig vorgebrachte Argument, bei Entbindungen im Krankenhaus gebe es die wenigsten Komplikationen, wurde mehrfach zurückgewiesen. Im Gegenteil werde in der Klinik »unnötig viel Technik« eingesetzt, und die sei mitunter sogar gefährlich. Prof. Wagner zitierte dabei Untersuchungen, nach denen es in Hessen Kliniken gebe, in denen bei »30 bis 40 Prozent« der Entbindungen ein Kaiserschnitt durchgeführt werde. Der sei »in vielen Fällen unnötig« und deshalb abzulehnen, denn er berge für Mutter und Kind erhebliche Risiken. Gleiches gelte für die »fast immer« vorgenommenen Dammschnitte. Sie seien in »nicht mehr als 20 Prozent« der Fälle notwendig, meinte Wagner. Vielfach werde der Technikeinsatz, der für das Krankenhaus kennzeichnend sei, wie in einem »Schneeballprinzip« provoziert: unnötige Untersuchungen zögen die eigentlich gar nicht erforderliche Verabreichung von Medikamenten nach sich, und deren Nebenwirkungen müßten dann wiederum therapiert werden. Daß der stationäre Klinikaufenthalt nicht die beste Entbindungsform darstelle, könne man jedoch auch im Vergleich mit den Niederlanden feststellen. Dort würden, so auch Astrid Limburg vom niederländischen Hebammenverband, rund 35 Prozent der Geburten zu Hause durchgeführt, und dennoch sei die Rate der Komplikationen geringer als in Deutschland, wo fast alle Geburten im Krankenhaus durchgeführt wurden (nur 0,6 Prozent aller Frauen bleiben hier zur Entbindung in der eigenen Wohnung). Voraussetzung für das von vielen als vorbildlich gelobte niederändische Modell sei jedoch das gute Vorsorgesystem, meinte Limburg. In dem Nachbarstaat würden die Frauen vor der Geburt nämlich rund 12 bis 15mal untersucht, und zwar zumeist von Hebammen. Selbst der Hausarzt bekomme die werdenden Mütter oft gar nicht zu Gesicht; Jedoch sei das offensichtlich auch gar nicht notwendig. Größere Kompetenzen für Hebammen, und zwar im klinischen Bereich wie auch außerhalb der Krankenhäuser - das war gestern ein häufig erhobenes Postulat. Wenn die Entbindung zu Hause durchgeführt werde, dann sei sie »dort, wo sie eigentlich hingehört, nämlich in den Kreis der Familie und bei der Frau, denn die trägt die Verantwortung und kann sie auch tragen«, so eine Teilnehmerin. Dabei gebe es jedoch noch einen weiteren Aspekt, der gegen die jetzt praktizierte Form der klinischen Geburt spreche. Er betrifft die Kosten der Entbindungen und wurde auch noch einmal von Ministerin Blaul aufgegriffen. Entbindungen zu Hause oder in Geburtshäusem seien nämlich weitaus kostengünstiger als in Kliniken, wo den Krankenkassen oftmals ein Tagessatz von mehr als 500 DM in Rechnung gestellt werde, sagte die Grünen-Politikerin. Daß die Krankenkassen bei nichtklinischen Entbindungen eine ausreichende Finanzierung oft verweigerten, sei geradezu »widersinnig«. Als Beispiel wurde in diesem Zusammenhang mehrfach das Entbindungshaus »In den Brunnengärten« in Rödgen genannt, das als einzige Einrichtung dieser Art in ganz Hessen von einer Hebamme geleitet wird. Obwohl es mit einem Tagessatz von rund 150 DM erheblich billiger ist als ein Krankenhaus, weigern sich die meisten Krankenkassen bisher, hier wahrgenommene Leistungen zu ersetzen. Seit Mitte der 80er Jahre, also seit Eröffnung des Entbindungshauses, gebe es einen Rechtsstreit über die Kassenzullassung des Entbindungshauses, der mittlerweile vor dem Landessozialgericht verhandelt werde, kritisierte auch Dr. Gudnin Scholz vom Verein »Bewußte Geburt und Elternschaft«. Blaul sprach deshalb auch von einer »Verweigerungshaltung« der Krankenkassen. Später stattete sie dem Entbindungshaus in Rödgen demonstrativ einen Besuch ab. Allerdings ließ die Ministerin auch erkennen, daß die Landesregierung schon Initiativen gestartet hat, um bei diesem Mißstand Abhilfe zu schaffen. So spricht der (neu gefaßte) hessische Krankenhausplan davon, daß eine Geburt grundsätzlich auch im Entbindungshaus möglich sein sollte. Vorher war dort ausschließlich das Krankenhaus genannt. Giessener Allgemeine, 04.04.1992