Frauen aller Schichten sollen Ort der Geburt frei wählen können
Kongreß in Gießen befürwortet das "Gebären aus eigener Kraft" / "Ärzte pfuschen Hebammen ins Handwerk"
GIESSEN. Sie haben es schwer, die schwangeren Frauen. "Schutzbedürftig", wie sie nun einmal sind, benötigen sie die "risikolose und sichere Entbindung im Krankenhaus" und die "Obhut der Ärzte" die, in ihrer Funktion als "geborene Geburtshelfer", mit allerlei medizinischem Gerät und "nützlicher Technologie" die "gefährliche Geburt" zum Wohle der werdenden Mütter überwachen. Die Klischees, von der Frankfurter Psychoanalytikerin Marina Gambaroff auf dem dreitägigen Kongreß "Gebären aus eigener Kraft" am Wochenende in Gießen angeführt, mache deutlich, wie sehr patriarchalische Denkstrukturen die Kompetenzen der eigentlich für die Geburt prädestinierten Hebammen beschneiden.
Während die Wissenschaftlerin einen Zusammenhang zwischen dem "geringer werdenden Einfluß der Hebammen" und der "Entmachtung der Frauen" herstellte, haben die Einrichtungen, die Frauen eine "humane Geburt" anbieten, Probleme ganz praktischer Art.
Beispiel Rödgen. In dem Gießener Stadtteil wurde Mitte der achtziger Jahre das bislang einzige in Hessen existierende Entbindungshaus eröffnet, das von einer Hebamme selbst geleitet wird. Etwa hundert Frauen haben dort im vergangenen Jahr ihre Spößlinge in einem wohlig-wohnlichen Ambiente auf die Welt gebracht. Doch weil dem Haus die Kassenzulassung fehlt, müssen die Frauen die Wochenpflege (derzeit 159 Mark pro Tag) aus eigener Tasche zahlen. Der Verein "Bewußte Geburt und EIternschaft", neben dem Bund Deutscher Hebammen und der Frauenbeauftragten der Stadt Gießen, Ulla Passarge, eine der VeranstaIterinnen des Kongresses, hat längst einen Rechtsstreit gegen die örtlichen Krankenkassen begonnen. Entschieden ist freilich noch nichts: der Streitfall liegt zur Zeit bei den Juristen in der zweiten Instanz am Darmstädter Landessozialgericht.
Immerhin können sich die rund 200 Teilnehmerinnen, meist Hebammen aus allen Teilen der Republik, ministerieller Unterstützung aus Wiesbaden sicher sein. Die hessische Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Iris Blaul, forderte auf dem Kongreß kostendeckende Pflegesätze auch bei Entbindungen außerhalb der Krankenhäuser. Die Grünen-Politikerin kritisierte in ungewohnter Schärfe die Haltung der Krankenkassen, die eine ausreichende Finanzierung der Entbindungen zu Hause oder in speziellen Geburtshäusem mit der Begründung verweigerten, dafür seien allein die Kliniken zuständig.
Eine Geburt sei indes jedoch weder eine Krankheit noch ein medizinisch-technisches Problem, sondern ein natürlicher Vorgang. Frauen aller sozialen Schichten müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, den Ort der Geburt frei zu wählen. Die "Verweigerungshaltung" der Krankenkassen nannte die Ministerin "auch aus Kostengründen widersinnig". Bei jeder Geburt, die in einem Krankenhaus vorgenommen wurde, müßten die Kassen pro Tag für die Wochenpflege zum Teil bis über 500 Mark bezahlen. Entbindungen zu Hause und in Geburtshäusern seien kostenmäßig damit überhaupt nicht zu vergleichen. Iris Blaul will der ständig steigenden Zahl von "Klinikverweigerinnen" mit einer Änderung des Krankenhausplanes gerecht werden. Künftig soll festgeschrieben werden, daß Geburten sowohl im Krankenhaus als auch außerhalb der Kliniken "prinzipiell" möglich sein sollen.
Die männlich dominierte Ärzteschaft begründet nach den Worten der Ministerin die "Bevormundung der Frauen" mit dem Argument der Sicherheit. Obgleich eine eigenständige Berufsgruppe, würden Hebammen noch heute oftmals als Assistentinnen der Ärzte herabgesetzt, kritisierte Blaul.
Durch das medizinisch höchst umstrittene Argument der fehlenden Sicherheit ist in Deutschland besonders die Hausgeburt in Verruf geraten. Vor gut zwei Jahren forderte die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie, diese Form des Gebärens durch Gesetz ganz zu unterbinden. Für Marsden G. Wagner, den ehemaligen; Direktor der perinatalen Sektion der Weltgesundheitsorganisation (WHO), liegen die "wahren Gründe" des Methodenstreits in dem Wunsch der Ärzteschaft, "Macht und Kontrolle über den Geburtsvorgang" zu besitzen. Die Mediziner, so die polemische Zuspitzung Wagners in Gießen, "trauen nicht den Frauen, sondem den Maschinen".
Die Formel: Je höher der Grad der Technisierung, desto geringer die Säuglingssterblichkeit", widerlegte Astrid Limburg vom niederländischen Hebammenverband. Holland weist nach ihren Aussagen sowohl den höchsten Prozentsatz an Hausgeburten (etwa 35 Prozent) als auch eine der niedrigsten Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten in Europa auf. Während die Vorsorge für Schwangere in Deutschland Ärzten obliege, seien in Holland dafür ausschließlich die Hebammen verantwortlich.
Angelika Josten und Isolde Brandstädter, die beiden Präsidentinnen des Bundes Deutscher Hebammen, wandten sich entschieden gegen eine Beschneidung der Rechte der bundesweit 12 000 Hebammen. Noch heute gebe die Organisationsstruktur der Kliniken den Ärzten die Möglichkeit, den Hebammen ins Handwerk zu pfuschen, sagte Josten. Es gebe "viele Wege zum Gebären", so die Präsidentin, "doch die Entscheidung, wo und wie die Schwangere das Kind bekommt, muß ganz allein bei ihr selbst liegen".
VOLKER TRUNK
Frankfurter Rundschau, 06.04.1992