Hebammen auf den Barrikaden: Gegen "technIsIerte KIinikgeburt"

Kongreß in Gießen plädiert für das "Gebären aus eigener Kraft"

AP Gießen. In der Stadtkultur der frühen Neuzeit genossen sie als Amtspersonen noch höchstes Ansehen, doch im Mittelalter wurden sie unter dem Vorwurf der "Hexerei" verfolgt und verbrannt: "Die Diskriminierung der Hebammen hat eine lange Tradition", klagte die Geburtshelferin. Sie war zusammen mit rund ZOO anderen Hebammen und Müttern sowie einigen wenigen Männern nach Gießen gekommen, um drei Tage lang über Geburtshilfe und die Situation der rund 12 000 Hebammen in Deutschland zu beraten.

Die Teilnehmerinnen der Tagung "Gebären aus eIgener Kraft", die am Samstag in der mittelhessischen Universitätsstadt zu Ende ging, waren sich einig: "Keine Geburt ohne Hebamme". Laut Hebammengesetz sind diese Fachkräfte zwar für die Geburtshilfe und Betreuung nach der Entbindung zuständig; doch die Frauen kritisierten, daß ihre Tätigkeit zunehmend ärztlicher Autorität unterstellt sei und sie selbst oft zu bloßen Arzthelferinnen "degradiert" würden.
Vor allem in Krankenhäusern pfuschten die Ärzte den Hebammen ins Handwerk, monierte Angelika Josten, eine der beiden Präsidentinnen des 9000 Mitglieder zählenden Bundes Deutscher Hebammen (BDH). Und diese "Klinikgeburten" seien die Regel. Nur rund ein Prozent aller werdenden Mütter entscheidet sich in Deutschland laut Statistik dafür, das Kind zu Hause oder in einem der wenigen von Hebammen geleiteten Geburtshäuser zur Welt zu bringen.
Vor allem aus Angst und Mangel an Aufklärung wählten die meisten Frauen die "technisierte Klinikgeburt". Dabei sei dies aus medizinischen Gründen nur bei einem kleinen Prozentsatz der Schwangeren geboten. Geburt sei keine Krankheit, versicherten die Kongreßteilnehmerinnen.
Die Frauen könnten den Entbindungsort aber nicht völlig frei wählen, sagte Frau Josten. So müßten werdende Mütter und Wöchnerinnen beispielsweise den Aufenthalt in Entbindungshäusern von Hebammen weitgehend aus eigener Tasche finanzieren. Das sei widersinnig, da die Kassen eigentlich an den kostengünstigeren Geburten außerhalb der Krankenhäuser interessiert sein müßten. Eine "starke Ärztelobby" stehe dem entgegen, sagte Frau Josten. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie habe sogar versucht, Hausgeburten künftig generell verbieten zu lassen.
Die Psychoanalytikerin Marina Gambaroff sprach sogar von dem Versuch, "den Frauen das Gebären zu enteignen". Es sei der Neid auf die weibliche Fähigkeit, Kinder auszutragen, der dazu geführt habe, daß Ärzte zunehmend die Funktion männlicher Geburtshelfer übernähmen. "Retortenbabys" züchteten und an der Gen-Technologie arbeiteten - einer Technologie, die langfristig die Geburt als natürlichen Vorgang ausschalten könne. Erst wenn die Gebärfähigkeit der Frauen auf diese Weise endgültig unter die Kontrolle und in den Besitz der Männer gelangt sei, werde deren "Gebärneid" beendet.
Astrid Limburg vom niederländischen Hebammenverband dagegen schilderte die Praxis in ihrer Heimat. Dort sei es den Frauen vollkommen freigestellt zu entscheiden, wo sie ihr Kind zur Welt bringen wollten. Obwohl die Hausgeburten in den Niederlanden einen Anteil von fast 40 Prozent an den gesamten Entbindungen hätten, gebe es dort eine der niedrigsten Säuglingssterblichkeitsraten in Europa.
"Auf keinen Fall geht es aber jetzt darum, nur noch Hausgeburten ohne ärztliche Unterstützung zu verlangen", versicherte Frau Josten. Entscheidend sei vielmehr, daß die werdenden Mütter frei den Ort der Geburt wählen könnten. Dazu müsse eine gründliche Aufklärung über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sowie eine ausreichende Finanzierung auch bei nichtklinischen Geburten sichergestellt sein. Außerdem sollten die Hebammen "wieder zur zentralen Figur der Geburtshilfe werden". Mit einer selbständig gefällten Entscheidung könne sich die Frau bei der Entbindung wieder als Subjekt wahrnehmen, sagte Limburg. Und je mehr Selbstvertrauen eine Schwangere entwickle, desto sicherer und unproblematischer verlaufe die Geburt.



Siegener Zeitung, 06.04.1992