Das Wunder des Alltäglichen

"Leben" - Für den Film von Heide Breitel wurde auch im Rödgener Entbindungsheim gedreht

GIESSEN (V). Eigentlich gehört dieser Film der Berliner Filmemacherin und Fotografin Heide Breitel in den Lehrplan jeder Schule: "Leben" - knapp eineinhalb Stunden intensiver Szenen und Aussagen über Fragen, die jeden Menschen, gleich welchen Alters, berühren: Wie hat mein Leben begonnen, wann und wie wird es enden? Wie kann ich das Kommen und Gehen in dieses Leben hinein und wieder heraus gut und sinnvoll gestalten - für mich, für Eltern und Freunde, für meine Kinder?

Ein halbes Jahr hat sich Heide Breitel Zeit genommen, um Orte in Deutschland aufzusuchen, an denen so natürlich und würdevoll wie möglich geboren und gestorben wird. Vom Frühjahr bis zum Herbst begleitete sie filmend und Anteil nehmend drei schwangere Frauen bis zur Geburt der Kinder in Deutschlands erstem Geburtshaus in Gießen-Rödgen. Ebenso einfühlsam zeichnete sie den Weg von vier krebskranken Menschen nach, die im Elisabeth-Hospiz in Lohmar/Deesem das Sterben durchleben.

Vor kurzem hatte der Film, dessen Produktion von der Hessischen Filmförderung unterstützt wurde, Premiere im Deutschen Filmmuseum Frankfurt. Besondere Intensität gewann diese erste Vorführung durch die Anwesenheit vieler Menschen, die auch auf der Leinwand erscheinen:
Eltern und ihre Kinder, der Hospizbewohner Jakob, dem eine Besserung seines Gesundheitszustandes gleichsam eine zweite Lebenschance geschenkt hat, Mitarbeiterinnen des Elisabeth-Hospizes und die Gründerin des Gießener Geburtshauses, die Hebamme Dorothea Heidorn. Sie alle standen nach der Premiere dem Publikum für Fragen zur Verfügung.

Auffallend: Als das Licht anging, herrschte einen Augenblick Stille, bevor der Applaus autbrandete: So stark wirkt Heide BreiteIs Film, der nichts anderes zeigt als das, was uns eigentlich allen nahe sein müsste: Gebären und Geborenwerden. Sterben und Zurückbleiben. Eine Mutter in Wehen, ein werdender Vater, der seine Frau unterstützt, die ersten Lebenssekunden ihres Kindes. Der letzte Tanz, der letzte Spaziergang einer Sterbenden, ihr Lachen, ihre Tränen. Das Antlitz der Toten.

Schwäche und Stärke, Schmerz und Lust, Vertrauen und Offenheit, wie sie unter Menschen entsteht, die die entscheidenden Phasen ihres Lebens bewusst erleben und miteinander teilen.

"Sie sind sehr mutig", bestätigte eine Frau aus dem Publikum der Regisseurin, deren Schaffen 1987 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet. wurde. Eine angeregte Diskussion entstand darüber, was in unserer Geseilschaft wohl stärker tabuisiert sei: Bilder vom Tod oder von der Geburt. Der Tod, besonders der schnelle, gewaltsame, ist in den Medien allgegenwärtig. Der Prozess des Sterbens findet durch die Hospizbewegung zunehmend Beachtung. So drehte Heide Breitel bereits 1991 den Film "DaSein" im Elisabeth-Hospiz.

Bilder vom Gebären, Fotos wie das Obige von einer Mutter, die unmittelbar, bevor ihr Kind das Licht der Welt erblickt, nicht nur stöhnt, sondern kraftvoll singt und lächelt, sind überaus selten. Wie aber sollen wir unser Leben genießen, füllen, aushalten, wenn wir nichts von ihm wissen?

Heide BreiteIs Film ist so wertvoll wie das, was er einfängt - das bewiesen auch die vielen, ungewöhnlich offenen Gespräche im Publikum der Premierenvorstellung.


Die Regisseurin
Heide Breitel wurde 1941 in Berlin geboren. 1960 bis 1962 machte sie eine Ausbildung zur Filmcutterin. Von 1973 bis 1979 war sie Dozentin für Filmgestaltung und Filmschnitt an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Seit 1977 dreht sie eigene Filme, die die 48-Jährige seit 1980 auch selbst produziert. Viele ihrer Filme wurden seitdem ausgezeichnet, unter anderem die Produktion "Francesca" mit dem Deutschen Filmpreis und dem Filmband in Silber sowie "Dasein" mit dem Prädikat "besonders wertvoll".


Zum Film
"Leben" (1998/99), 16 mm, 81 min., Farbe. Buch, Regie und Schnitt: Heide Breitel. Produktion: Prof. Jürgen Haase. Produktionsleitung: Renata Sladkowski. Herstellungsleitung: Wolfgang Plehn. Kamera: Ralf Klingelhöfer. Musik: Uwe Klapdor. Recherchen: Frank Roell.
Informationen beim Filmbüro Hessen e.V. Tel.: 069/13379618.
Produktion und Vertrieb: Provobis Gesellschaft für Film und Fernsehen. 20149 Hamburg. Tel.: 040/4132740.



Ein guter Ort, um anzukommen auf dieser Welt

1985 eröffnete Dorothea Heidorn "In den Brunnengärten" das erste Geburtshaus seiner Art in Deutschland

GIESSEN-RÖDGEN ; (V). Einen guten Ort, um anzukommen - einen Ort, an dem werdende Mütter und ihre Babys und deren Partner/Väter sich wohl fühlen können, danach begann Dorothea Heidorn Mitte der 80er Jahre zu suchen und wurde schließlich in Rödgen fündig. Sie eröffnete am 1. Juli 1985 nach umfangreichen Renovierungsarbeiten in einer großen Scheune mit Nebengebäuden ihr Entbindungshaus "In den Brunnengärten". Seinerzeit war es das erste dieser Art in Deutschland, mit sechs Betten, einem Entbindungsraum, Küche, Gymnastik- und Gemeinschaftsraum und einem liebevoll gepflegte Garten.
Ursprünglich gehörten die Gebäude zu einem großen Hofgut, heute werden hier Geburtsvorbereitungskurse für werdende Eltern abgehalten, Vorsorgetermine angeboten und natürlich Entbindungen durchgeführt nach der Methode, die der Mutter angemessen ist und bei der sie sich am wohlsten fühlt. Auch die Wochenbettpflege kann die Mutter "in den Brunnengärten" genießen. Dorothea Heidorn war lange Jahre freiberufliche und leitende Lehrhebamme an verschiedenen Krankenhäusern, eröffnete in ihrem Entbindungshaus 1996 die erste Mütterpflegerinnenschule Deutschlands. Die Mütterpflegerin hilft der jungen Mutter beziehungsweise Familie im Haushalt, ist Beistand und Ratgeber und beugt der Überlastung der Mütter vor. Bis 1960 gab es den Beruf der Wochenpflegerin hierzu Lande, Dorothea Heidorn hat ihn wieder aufleben lassen und schafft somit auch Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Frauen.


Gießener Anzeiger, 03.01.2000, S. 17